Druck und Papier

Sonntag, 17. August 2008

Friedensgeschichten

In einem überfüllten Eisenbahnabteil sitzt der psychisch und physisch ausgelaugte Gefreite der deutschen Wehrmacht, Werner Rott. Zwei Tage und Nächte hat er nicht geschlafen. Doch die Angst vor der Gestapo hält ihn wach: Er hat eine Botschaft in der Tasche, die helfen soll, den Wahnsinn zu beenden. «Zehntausend solcher Kuriere wie mich», denkt er voller Hoffnung, «und morgen ist der Krieg zu Ende.»

Sie haben den Kurier alias Alfred Andersch nicht erwischt, damals an der Heimatfront, eine der drei frühen Erzählungen dieses ‹alten› neuen Buches. Zwar saß die Gefahr in der Person einer professionellen Denunziantin ihm gegenüber im selben Abteil, doch die hatte die Nase voll von ihrem widerwärtigen Job.

Ein Kämpfer ist Andersch bis zu seinem Tod 1980 geblieben. So ehrlich und gradlinig wie seine Überzeugung ist auch die Sprache des Buches. Diese Friedensgeschichten sind als Handbuch geeignet — wider die Argumente der rasselnden Säbel.

Alfred Andersch
Flucht In Etrurien. Frühe Erzählungen
Diogenes, Zürich 1981

Vorwärts Nr. 47, 12. November 1981, S. 30

Schumanns Reise

Hal Marienthal hieß einmal Helmut Schoemann und lebte in Dortmund. 1936 mußte er im Alter von zwölf Jahren Deutschland verlassen: Sein Vater war Kommunist und Jude, er selbst hatte für die KPD Plakate geklebt. Auf einer abenteuerlichen Reise durch Nazi-Deutschland gelangt er nach Stuttgart, wo er seine Ausreisepapier erhält. Doch selbst dann noch wäre ihm die Flucht fast mißglückt: Die Behörden wissen um seine Aktivitäten und versuchen ihn festzuhalten. Nur durch den mutigen Einsatz einer Angestellten der Hapag-Lloyd kann er an Bord des Schiffes gehen, das in in die USA bringt. Sein Vater bleibt zurück und kommt in Auschwitz um.

Marienthal hat aus seiner Geschichte einen spannenden und bewegenden Roman gemacht. Da er im späteren Leben Drehbuchautor wurde, löste er die Handlung in kurze, filmisch gehaltene Szenen auf. So entsteht ein Panorama der menschlichen Verhaltensstrategien und politischen Auseinandersetzungen nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten. Dabei zeichnet er keine Typen, sondern gestaltet Individuen — so wird die Zeit erfahrbar, die nur scheinbar weit zurückliegt.

Hal Marienthal
Schumanns Reise
Aus dem Amerikanischen von Stefan Weidle
Weidle Verlag, Bonn 1996
330 Seiten, € 21,00; SFR 40,50

Laubacher Feuilleton 19.1996, S. 13

Udo Steinke

Die Buggenraths
Roman

Ein «epischer Instinkt» trieb Thomas Mann zu dem «vom Verfallsgedanken überschatteten Kulturgemälde» Die Buddenbrooks. Mit ihm prophezeite der Lübecker den Untergang der bürgerlichen Gesellschaft. Für das Opus um eine vier Jahrzehnte andauernde Talfahrt einer bürgerlichen Familie erhielt Mann 1928 den Nobelpreis. Der DDR-Emigrant Udo Steinke führt Die Buggenraths respektlos wieder hinauf zum Gipfel bourgeoiser Glücksseligkeit: eine veritabie Absage an die Sisyphusianer.

Sohn Max Emanuel Buggenrath alias Thomas Buddenbrook ist «als Abgeordneter einer neuen, demokratischen Partei» eingezogen «in den Ersten Deutschen Bundestag». Daß sein alter Parteichef sich verbrannt hatte, «war noch lange kein Fanal» für einen Abkömmling jener «seltenen deutschen Familien im Hintergrund, die bis heute jeden gesellschaftlichen Kontakt meiden, nie über Geld reden, es unbemerkt ausgeben und es noch unbemerkter sackweise verdienen». Steinkes Anspielungen auf bürgerliche Wiederaufrüstung sind vollgepackt mit historischen Kenntnissen und strotzen vor Ironie.

Sollte Steinke nach diesem literarischen Höhenflug die Fabulierlust nicht ausgegangen sein, wird ihn sicher bald ein noch Höherer empfangen als der Oberste Bayerische Kultussolist Hans Maier, der ihm 1980 in fürstlicher Manier den Bayerischen Literaturpreis verlieh. Denn so viel fröhliche, wenngleich manchmal stilistisch zu aufgepfropfte Anarchie dürfte unser Literaturpreisgefüge gerade noch aushalten.

Vorwärts Spezial 47.1981, S. 30

•••

Doppeldeutsch
Erzählungen

1980 erhielt Steinke für seinen Erstling Ich kannte Talmann nach einem vieldiskutierten und umstrittenen Alleingang des bayerischen Kultusministers Hans Maier den Literaturpreis des Freistaats. Wie man auch immer über diese hanebüchene und selbstherrliche Entscheidung denken mag — verdient hat das literarische Unikum Steinke diese Auszeichnung allemale. Denn auch sein mitterweile viertes Buch beweist, was dieser aus der DDR stammende Autor kann: nämlich Geschichten erzählen wie einer, von dem man sagt, man müsse ihm das Maul extra totschlagen für den Fall, daß er einmal das Zeitliche gesegnet haben sollte. Zumal diese Fabulierlust gekrönt wird von einer sprachlichen Erfindungsgabe, die zirzensische Ausmaße annimmt: dreifache Salti, als ob's Purzelbäume wären.

Es geht in diesen neun Erzählungen um die Erlebnisse Steinkes diesseits und jenseits der «Zonengrenze», die er seiner Phantasiebegabung entsprechend ausgeschmückt hat.

Da erinnern sich ein sowjetischer General und ein amerikanischer Oberst, die sich 1945 an der Elbe bei Torgau noch mit «Bruderküssen bewarfen», daß sie genau dort in Tante Thates Behausung Deutschland trennten, wo die Wodkaflaschen-Batterie lagerte.

Oder ein aus dem Zuchthaus Bautzen entlassener «Politischer» erfahrt als Anhalter auf der Transitstrecke, wie schnell man im Westen sein kann, wenn man den 287 Luxuspferden einer Westkarosse in den Bauch tritt und dabei einen Ostführerschein hat.

Sehr deutsch ist dieser kleine Grenzverkehr, aber eben doppeldeutsch.


Vorwärts Spezial 2.1985, S. 17

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